Lau­da­tio anläss­lich der Ver­lei­hung des Johan­nes XXIII.-Preises durch den pax christi
Diö­ze­san­ver­band Müns­ter an die AKTION Wür­de und Gerech­tig­keit aus Lengerich
am 25.9.2021 in der Katho­li­schen Stu­die­ren­den- und Hoch­schul­ge­mein­de (KSHG) in Münster

1 Ein­lei­tung
Wir wür­di­gen hier und heu­te ein ent­schie­de­nes Enga­ge­ment gegen organisierte
Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit. Wir wür­di­gen mit der Ver­lei­hung des Johan­nes XXIII.-Preises 2021 das
Enga­ge­ment der AKTION Wür­de und Gerech­tig­keit in Len­ge­rich. Die AKTION enga­giert sich
ins­be­son­de­re für Men­schen in der Fleisch­in­dus­trie, deren Arbeits­kraft unter prekären,
men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen und zu nied­ri­gem Lohn aus­ge­nutzt wird. Sie deckt auf und
ver­sucht zu stop­pen, wie Arbeitsmigrant*innen aus Ost­eu­ro­pa aus­ge­beu­tet wer­den, wie sie wie
Weg­werf­men­schen behan­delt wer­den: ein aus­ge­feil­tes Skla­ven­sys­tem in unse­ren Tagen und
unter uns – vie­le Jah­re hin­ge­nom­men, im Dun­kel blei­bend, weit­ge­hend unbe­ach­tet von der
Öffent­lich­keit. Advo­ca­cy heißt das Fach­wort für sol­ches Enga­ge­ment – und es meint: Anwalt der
Ent­rech­te­ten zu sein.


2 Advo­ca­cy – Ver­tei­di­gung der Men­schen­rech­te und der Men­schen­wür­de als Aufgabe
In der Preis-Urkun­de haben wir uns in pax chris­ti für ein Zitat aus der Kon­sti­tu­ti­on Gau­di­um et
spes des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils (1962–1965) entschieden:
„Was immer die mensch­li­che Wür­de angreift, wie unmensch­li­che Lebensbedingungen,
will­kür­li­che Ver­haf­tung, Ver­schlep­pung, Skla­ve­rei, Pro­sti­tu­ti­on, Mäd­chen­han­del und Han­del mit
Jugend­li­chen, sodann auch unwür­di­ge Arbeits­be­din­gun­gen, bei denen der Arbei­ter als bloßes
Erwerbs­mit­tel und nicht als freie und ver­ant­wort­li­che Per­son behan­delt wird: all die­se und andere
ähn­li­che Taten sind an sich schon eine Schan­de; sie sind eine Zer­set­zung der menschlichen
Kul­tur, ent­wür­di­gen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erlei­den. Zugleich sind
sie in höchs­tem Maße ein Wider­spruch gegen die Ehre des Schöp­fers.“ (GS 27: in: Karl
Rahner/Herbert Vor­grim­ler, Klei­nes Kon­zils­kom­pen­di­um, 11. Aufl., Frei­burg 1976, S. 474f)
Die­ser Text atmet die Grund­über­zeu­gung des Kon­zils­paps­tes Johan­nes XXIII.: Kir­che Jesu
Chris­ti ist Kir­che in der Welt; sie hat Prä­senz zu zei­gen, für die Men­schen da zu sein; sie hat die
Freu­de und Hoff­nung, die Trau­er und Angst der Men­schen – aller Men­schen ohne jeden
Unter­schied – wahr­zu­neh­men, dafür Inter­es­se zu zei­gen, sie zu ihren eige­nen zu machen. (vgl.
GS 1: ebd. S. 449) Ein Satz aus dem Ver­mächt­nis von Johan­nes XXIII., gespro­chen am 24.5.1963
kurz vor sei­nem Tod und auf­ge­schrie­ben von sei­nem Sekre­tär, macht eine sol­che Haltung
überdeutlich:
„Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letz­ten Jahr­hun­der­ten, sind wir heu­te darauf
aus­ge­rich­tet, dem Men­schen als sol­chem zu die­nen, nicht bloß den Katho­li­ken, dar­auf, in erster
Linie und über­all die Rech­te der mensch­li­chen Per­son und nicht nur die­je­ni­gen der katholischen
Kir­che zu ver­tei­di­gen.“ (Lud­wig Kaufmann/Nikolaus Klein, Johan­nes XXIII. Pro­phe­tie im Vermächtnis,
Fribourg/Brig 1990, 24)
Eine sol­che Ein­stel­lung, eine sol­che Erkennt­nis fußt auf sehr alten Tex­ten unse­rer jüdisch-
christ­li­chen Tra­di­ti­on: Jesus Sirach nen­ne ich als ein Bei­spiel unter vielen:
„Kärg­li­ches Brot ist der Lebens­un­ter­halt der Armen, wer es ihnen vor­ent­hält, ist ein Blutsauger.
Den Nächs­ten mor­det, wer ihm den Unter­halt nimmt. Blut ver­gießt, wer dem Arbei­ter den Lohn
vor­ent­hält.“ (Jesus Sirach 34, 24–27)

Kla­re Wor­te sind hier auf­ge­schrie­ben: Der­je­ni­ge, der den Arbeiter*innen ihren Lebensunterhalt
raubt, ist ein wah­rer Blut­sauger, sogar ein Mör­der. Das ange­spro­che­ne „Blut­aus­sau­gen“
geschieht auch hier­zu­lan­de unter uns. Unter­drü­ckung geschieht in den Struk­tu­ren, in denen wir
leben und von denen wir pro­fi­tie­ren. Sol­chen unge­rech­ten und lebens­be­hin­dern­den Strukturen
mit Schwei­gen oder mit Nach­sicht zu begeg­nen, heißt, deren Stoß­rich­tun­gen und deren „Waf­fen“
zu seg­nen. In der Tra­di­ti­on des Ers­ten und Zwei­ten Tes­ta­ments ist sozia­les politisches
Enga­ge­ment und Advo­ca­cy-Arbeit tief ver­an­kert. Par­tei­nah­me und Ein­satz für die Entrechteten
und Mar­gi­na­li­sier­ten ist in der Bür­ger­lich­keit der Kir­chen und Ver­bän­de oft an so vie­len Orten bei
uns ver­lo­ren gegan­gen. Empö­rung ist bei nur weni­gen wahrzunehmen.
Ich erin­ne­re unse­re Tra­di­ti­on bei­spiel­haft mit die­sen Tex­ten, weil sozi­al­po­li­ti­sches Engagement
sol­che Tex­te in sei­nem Rücken wis­sen darf. Ich erwäh­ne die­se Tex­te, weil es in solchem
Enga­ge­ment um den Ein­satz für „gutes Leben“ geht. Gutes Leben“ meint: dass Men­schen nicht
getö­tet wer­den, nicht ver­trie­ben, aus­ge­beu­tet, nicht unter­drückt, ver­ach­tet, nicht diskriminiert,
ent­rech­tet, mar­gi­na­li­siert wer­den, dass das Leben auf unse­rer Erde zu schüt­zen und zu
bewah­ren ist. Gewalt in all die­sen For­men ist etwas zutiefst Anti­christ­li­ches, Antijesuanisches,
weil sie klein und unsicht­bar macht, Men­schen nie­der­drückt — und in ihrer extrems­ten Form zu
ver­nich­ten sucht. Damit steht sie der Reich-Got­tes-Bot­schaft Jesu, die die Wür­de eines jeden
Men­schen, gera­de der Mar­gi­na­li­sier­ten, groß macht und ins Zen­trum stellt, dia­me­tral entgegen.

3 Die AKTION und ihre Grün­dung in Len­ge­rich in 2019
Schaut man in die Sat­zung der AKTION Wür­de und Gerech­tig­keit, fin­det man her­aus, dass sie
eine noch jun­ge Orga­ni­sa­ti­on ist: Die Grün­dungs­ver­samm­lung datiert vom 4. Janu­ar 2019.
Der wich­tigs­te und ers­te Zweck des Ver­eins ist, „die För­de­rung der Hil­fe für Zuwan­de­rer, die
Opfer von Arbeits­aus­beu­tung, Straf­ta­ten und Unfäl­len wur­den, sowie ins­be­son­de­re die
Schaf­fung, Wah­rung und Durch­set­zung der Rech­te der Betroffenen“.
(vgl. § 2: www.wuerdegerechtigkeit.de/unser-verein/satzung-kuratorium/)
Die­ser Zweck soll rea­li­siert wer­den durch „Öffent­lich­keits­ar­beit, poli­ti­sche Lob­by­ar­beit und
Poli­tik­be­ra­tung, durch Beglei­tung von Zuwan­de­rern bei Behör­den­gän­gen, durch juristische
Bera­tungs­an­ge­bo­te, durch Infor­ma­ti­ons- und Bil­dungs­ar­beit, durch Koope­ra­tio­nen mit
Orga­ni­sa­tio­nen ver­gleich­ba­rer Ziel­set­zung“. (vgl. § 3: ebd.)
Dazu gibt es eine Vor­ge­schich­te in Lengerich:
In 2017 began­nen Gesprä­che zwi­schen Vertreter*innen von Insti­tu­tio­nen und Grup­pen, um ihre
Erfah­run­gen mit ost­eu­ro­päi­schen Arbeitsmigrant*innen aus­zu­tau­schen. Es wuchs lang­sam die
Erkennt­nis über erschre­cken­de sys­tem­be­ding­te Zustän­de: dass sich also auch in Lengerich
her­aus­ge­bil­det hat­te, was man bis­lang nur aus ande­ren Städ­ten über pre­kä­re und
men­schen­un­wür­di­ge Lebens‑, Wohn- und Arbeits­be­din­gun­gen von Arbeitsmigrant*innen in der
Fleisch­in­dus­trie gehört hat­te. Ca. 1.100 Men­schen aus Bul­ga­ri­en und Rumä­ni­en woh­nen in
Len­ge­rich – abge­son­dert, nicht inte­griert, meis­ten­teils ohne deut­sche Sprachkenntnisse,
beschäf­tigt in den Schlacht- und Fleisch­be­trie­ben im Umland, vie­le in Müns­ter, Sas­sen­berg und
Georgs­ma­ri­en­hüt­te, wohin sie auch täg­lich hin- und zurück“gekarrt“ wer­den von den Firmen.
Ein Rechts­an­walt in Len­ge­rich, der in Rumä­ni­en über 20 Jah­re für die deut­sche Industrie
gear­bei­tet und dann ‘die Sei­ten gewech­selt‘ hat­te, setz­te einen Arbeits­schwer­punkt auf die
anwalt­li­che Beglei­tung von Arbeitsmigrant*innen. Sein Name ist Gis­bert Stal­fort. Er ist vor einem
Monat 57-jäh­rig ver­stor­ben. Er schlug in 2018 vor, einen Ver­ein zu grün­den, um bes­ser vertreten
und bera­ten zu kön­nen und um eine grö­ße­re Schlag­kraft in der Öffent­lich­keit zu haben. Ende des
Jah­res 2018 wur­den die Vor­be­rei­tungs­ar­bei­ten für den Ver­ein abge­schlos­sen – und danach die
Grün­dung vollzogen.
Heu­te hat der Ver­ein 235 Mit­glie­der aus allen gesell­schaft­li­chen Schich­ten. Die meis­ten kommen
aus NRW, eini­ge auch aus Nie­der­sach­sen, dem Olden­bur­ger Land, aus Bre­men und aus
Süd­deutsch­land, schwer­punkt­mä­ßig aus Len­ge­rich, Müns­ter, Osna­brück, dem Nie­der­rhein und
Aachen.
Seit den Coro­na-Hot­spots vor einem Jahr haben die regio­na­len und über­re­gio­na­len Medi­en wie
auch das Fern­se­hen in Doku­men­ta­tio­nen und Talk­run­den immer wie­der über die Zustän­de in der
Fleisch­in­dus­trie berich­tet. Im Herbst 2020 erschien der Doku­men­tar­film „Regeln am Band, bei
hoher Geschwin­dig­keit“. Das hat end­lich vie­le bewegt, ihre Sin­ne für die Lebens­be­din­gun­gen der
ost­eu­ro­päi­schen Arbeiter*innen zu öff­nen und wahr­zu­neh­men, dass hier moder­ne For­men der
Skla­ve­rei in einem Rechts­staat betrie­ben werden.

4 Was auf­ge­deckt wur­de – moder­ne Skla­ve­rei im Rechts­staat Deutschland
Die­se moder­nen For­men von Skla­ve­rei wur­den u.a. auch durch die AKTION auf­ge­deckt, verfolgt,
ange­pran­gert, öffent­lich gemacht. Stich­wor­te sind Lohn- und Sozi­al­dum­ping: dass Menschen
ange­mie­tet, ver­schlis­sen und danach ent­sorgt, d.i. ent­las­sen und belie­big aus­ge­tauscht werden;
dass sie aus­ge­beu­tet wer­den in sog. Zwölf-Stun­den-Schich­ten mit unbe­zahl­ten Überstunden;
durch absurd hohe Ver­trags­stra­fen bei vor­zei­ti­ger Kün­di­gung; durch Sechs- bis Sieben-Tage-
Wochen und durch Bezah­lung unter dem Min­dest­lohn; durch frist­lo­se Kün­di­gung von
Arbei­te­rin­nen bei Schwan­ger­schaf­ten; dadurch, dass Kran­ken­ver­si­che­rungs­schutz oft­mals nicht
gewähr­leis­tet ist; dass sie meist unauf­fäl­lig und unter sich in oft halt­lo­sen Wohnverhältnissen
leben müs­sen mit hor­rend hohen Mie­ten z.B. für ein Bett im Mehr­bett- bzw. Sechsbettzimmer
EUR 200 – Umstän­de, die Teil­ha­be und Teil­nah­me am gesell­schaft­li­chen Leben nahezu
unmög­lich machen. (vgl. z.B. DIE ZEIT vom 17.12.2020, S. 27: Unge­woll­te Ein­bli­cke – Vor Gericht
kommt nun zur Spra­che, wie es in der Schat­ten­welt zugeht)
Sie wer­den behan­delt als Ware, und es scheint kei­ne Rol­le zu spie­len, was das mit ihrem Leben
und ihrer Gesund­heit macht, dass sie schwe­re kör­per­li­che und psy­chi­sche Schä­den nehmen,
dass sie letzt­lich als Men­schen zwei­ter Klas­se ange­se­hen und behan­delt werden.
Das alles ist de fac­to orga­ni­sier­te Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit, Will­kür­herr­schaft über Menschen,
moder­ne Skla­ven­hal­tung. Die Gewerk­schaft Nah­rung, Genuss, Gast­stät­ten (NGG) spricht von
„orga­ni­sier­ter Kri­mi­na­li­tät“. Dahin­ter ist gestan­den eine Sub­un­ter­neh­mer-Struk­tur. Durch sie
wur­de begin­nend ab der 1990er Jah­re sei­tens der Fleisch­in­dus­trie die Personalverantwortung
immer wei­ter aus­ge­la­gert und die Stamm­be­leg­schaft wei­test­ge­hend aus­ge­wech­selt mit
ost­eu­ro­päi­schen Arbeitsmigrant*innen. Die­se im Rechts­staat Deutsch­land auf­ge­bau­te Struk­tur ist
oft­mals in enger Ver­flech­tung mit den sog. hie­si­gen „Fleisch­ba­ro­nen“ gestan­den. Beschäftigte
sind auf Ver­schleiß gebucht – wer­den aus­ge­tauscht, wenn sie nicht mehr können.
„WegwerfMenschen-Mentalität“ wird das in der AKTION Wür­de und Gerech­tig­keit genannt.
Kurz und poin­tiert gesagt: Wir sehen also vor unse­rer Haus­tür, wie Kapi­ta­lis­mus funktioniert,
des­sen Pro­duk­te uns dien­lich sind und dem wir uns andie­nen: Kos­ten wer­den exter­na­li­siert, von
den Fleisch­fir­men an Sub­un­ter­neh­mer dele­giert, Per­so­nal­ver­ant­wor­tung wird abgegeben,
Men­schen wer­den wie Waren behan­delt und abge­schrie­ben. Die schä­bi­ge Sei­te des
Kapi­ta­lis­mus, der Men­schen aus­nut­zen und aus­pres­sen kann, wird vor unse­rer eige­nen Haustür
sicht­bar und wirk­sam, wo er schon lan­ge – oft ohne Gewerk­schafts­ge­gen­macht – sein Unwesen
treibt. Die­se Sei­te, von der wir pro­fi­tie­ren durch bil­li­ge Fleisch­prei­se, kommt uns unangenehm
nahe. Wir als deut­sche Gesell­schaft bedie­nen uns des West-Ost-Ein­kom­mens­ge­fäl­les in Europa
und nut­zen es zu unse­rem wirt­schaft­li­chen Vor­teil aus.

Die Fleisch­in­dus­trie und wir als die Fleisch-Konsument*innen nut­zen vor­teil­neh­mend die
Arbeits­kraft von ost­eu­ro­päi­schen Arbeitsmigrant*innen zu Bedin­gun­gen, die ers­tens das
Spek­trum per­sön­li­cher Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten die­ser Men­schen ver­en­gen und in die­sem Sinne
die Grund­la­gen eines selbst­be­stimm­ten Lebens unter­gra­ben. Und die zwei­tens die arbeits- und
sozi­al­recht­li­chen Stan­dards, die hier­zu­lan­de in sozia­len Kämp­fen zur „Abfe­de­rung“ des
Kapi­ta­lis­mus erstrit­ten wur­den, mas­siv unterlaufen.

5 Der Spi­ri­tus Rec­tor – Ein Mann mit einer Opti­on für die Ent­rech­te­ten, der sich empört
Die AKTION Wür­de und Gerech­tig­keit lässt sich nicht wür­di­gen, ohne den Spi­ri­tus Rec­tor in den
Blick zu neh­men. Es ist Peter Kos­sen, auf­ge­wach­sen in Rech­terfeld bei Vis­bek in Südoldenburg,
Pries­ter des Bis­tums Müns­ter, Pfar­rer in Len­ge­rich und vor­mals Vize-Offi­zi­al im Bischöflich
Müns­ter­schen Offi­zia­lat in Vechta.
Kurz nach sei­nem Dienst­an­tritt in Vech­ta hör­te er in 2012 in Olden­burg von Bera­te­rin­nen des
Sozi­al­diens­tes kath. Frau­en (SkF) von einer Arbei­te­rin aus Rumä­ni­en, die schwan­ger geworden
war, die dar­auf­hin ihre Arbeit in einem Fleisch­zer­le­gungs­be­trieb in Süd­ol­den­burg ver­lo­ren hatte
und das Geld für die Rück­fahrt nach Rumä­ni­en nicht auf­brin­gen konn­te. Am Ende eines Monats
war ihr nur ein Hun­ger­lohn aus­ge­zahlt wor­den. Ein Land­arzt aus Gol­den­stedt berich­te­te ihm:
Ost­eu­ro­päi­sche Män­ner kämen mit schwe­ren Ver­let­zun­gen von der Arbeit, weil es nur
unzu­rei­chen­de Schutz­klei­dung gebe. Ein Arbeits­tag sei 12 Stun­den lang. Arbeits­rech­te spielten
kei­ne Rol­le. In einem Schlacht­hof sei­en an Feu­er­lö­schern Kame­ras ver­steckt, die jeden Schritt
der Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter bis in die Umklei­den kon­trol­lier­ten. In den oft
her­un­ter­ge­kom­me­nen Unter­künf­ten der Arbeitsmigrant*innen wer­de ein Bett für meh­re­re hundert
Euros an drei Per­so­nen im Schicht­be­trieb ver­mie­tet. Man­che schlie­fen sogar im Wald.
Es waren Beob­ach­tun­gen, die ihn erschüt­ter­ten. Er ent­schied sich, sein Amt zu nut­zen und die
Tat­sa­chen aus dem Schat­ten ins Licht zu zie­hen. Im August 2012 bei einem Got­tes­dienst in der
Gemein­de Loh­ne the­ma­ti­sier­te er all die Ein­bli­cke, die seit sei­ner Ankunft an ihn herangetragen
wur­den, und kam zu fol­gen­dem Schluss: “Wenn es uns nicht gelingt, men­schen­wür­di­ge Arbeits-
und Lebens­be­din­gun­gen auch für Migran­ten zu garan­tie­ren, dann ver­rot­ten unse­re Wer­te von
innen! All das, wor­auf wir in Süd­ol­den­burg stolz sind: Fleiß, Inno­va­ti­on, Mut und auch unser
Gemein­schafts­ge­fü­ge, ver­rot­tet von innen, wenn es uns nicht gelingt, Rech­te und Gerechtigkeit
allen zugäng­lich zu machen, auch den Migran­ten!” (vgl. DIE ZEIT vom 7.4.2021:
www.zeit.de/2021/15/peter-kossen-pfarrer-fleischindustrie-arbeitsbedingungen-aktivismus/komplettansicht)
Mat­thi­as Brüm­mer, der Olden­bur­ger Gewerk­schaft­ler bei der NGG, hat viel­fach mit Peter Kossen
zusam­men­ge­ar­bei­tet. Er sagt: “Herr Kos­sen ist ein Bei­spiel dafür, dass sich gewerkschaftliche
und christ­li­che Grund­wer­te im Kampf um die Gerech­tig­keit nicht unter­schei­den.” Mit dieser
Aus­sa­ge steht er in einer bis ins 19. Jahr­hun­dert zurück­rei­chen­den Tra­di­ti­on kirchlicher
Sozi­al­leh­re und Katho­li­scher Sozialethik.
Ande­re sagen, Peter Kos­sen habe sich im Lau­fe der Jah­re instru­men­ta­li­sie­ren las­sen. Er
über­trei­be, pola­ri­sie­re, wer­te Unter­neh­men ab und ver­un­glimp­fe Land­stri­che. Der Bürgermeister
von Vis­bek warf ihm in einem Gespräch mit der Zei­tung Kir­che und Leben vor, pauschale,
undif­fe­ren­zier­te Vor­wür­fe zu erhe­ben und sei­ne Gemein­de in unge­recht­fer­tig­ter Wei­se in
Miss­kre­dit zu brin­gen. Ich selbst höre, dass Pfar­rer Kos­sen ein nicht gern gese­he­ner Gast in
kirch­li­chen Häu­sern und Gemein­den im Olden­bur­ger Land sei. Auch die Offi­zial­ats­lei­tung in
Vech­ta ste­he zu ihm in Distanz. Es wird oft ins Feld geführt, dass Spen­den- und
Kir­chen­steu­er­ein­nah­men weg­bre­chen könn­ten, wenn hier zu deut­lich Par­tei für die
Arbeitsmigrant*innen bezo­gen wer­de. Mit Blick auf unse­re biblisch-pro­phe­ti­sche Tra­di­ti­on und die
Reich-Got­tes-Bot­schaft Jesu und mit Blick auf die kirch­li­che Sozi­al­leh­re bricht sich bei mir der

Gedan­ke Bahn, dass mit sol­cher Ein­schät­zung die Bot­schaft von der Lie­be Got­tes zu uns
Men­schen, zu allen Men­schen ohne Unter­schied, ver­ra­ten wird. Oder anders gefragt: Führt eine
sol­che Hal­tung nicht dazu, dass Kir­che zu einer Brut­stät­te von Ent­so­li­da­ri­sie­rung, Ausgrenzung
und Ego­is­mus wird?
Peter Kos­sen hat 2017 das BMO in Vech­ta ver­las­sen, wur­de Pfar­rer in Len­ge­rich und kämpft
wei­ter von hier aus für fai­re Arbeitsbedingungen.

6 Stoß­rich­tung des Enga­ge­ments der AKTION – Aktu­el­le Arbeitsakzente
Zu den aktu­el­len Arbeits­ak­zen­ten und Pro­jek­ten: Die AKTION hat ein Büro in Len­ge­rich, das mit
zwei Per­so­nen besetzt ist, die Anru­fe und Bera­tungs­an­fra­gen ent­ge­gen­neh­men. Geleis­tet wird:
kon­kre­te Bera­tungs- und Beglei­tungs­ar­beit für Men­schen in der Fleisch­in­dus­trie. Seit kur­zem gibt
es eine hal­be Juris­ten­stel­le — besetzt mit einem Rechts­an­walt i.R. — finan­ziert vom
Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um in NRW – ein Pilotprojekt.
Die Hilfs­an­fra­gen von Arbeitsmigrant*innen berüh­ren Fra­gen des Arbeitsrechts,
Lohn­vor­ent­hal­tun­gen, fal­sche Lohn­be­rech­nun­gen, unbe­zahl­te Über­stun­den, nicht gel­tend zu
machen­de Urlaubs­an­sprü­che, Kün­di­gun­gen wegen Schwan­ger­schaft, Kün­di­gun­gen wegen
Krank­heits­aus­fäl­len, Woh­nungs­fra­gen (Miet­kün­di­gun­gen, Miet­wu­cher, überhöhte
Kos­ten­ab­rech­nun­gen) etc.
Die Erfah­rung der AKTION ist: all dies wird auch wei­ter­hin noch ‘ver­sucht‘ in vie­len (Sub-)
Struk­tu­ren der Fleisch­in­dus­trie, weil davon aus­ge­gan­gen wird, dass sich die Arbeitsmigrant*innen
nicht dage­gen auf­leh­nen (kön­nen). Arbeits­recht­lich klä­ren sich die­se Din­ge meis­tens leicht -
immer dann, wenn anwalt­li­che Ver­tre­tung dabei ist.
Ver­net­zungs­ar­beit mit ande­ren Bera­tungs­stel­len in NRW und NiSa und bun­des­weit ist im Blick.
Die Zusam­men­ar­beit und der Aus­tausch mit der Gewerk­schaft NGG bzw. Betriebs­rä­ten wird
gesucht, um gemein­sam die Umset­zung des „Arbeits­schutz­kon­troll­ge­set­zes für die
Fleisch­in­dus­trie“ zu beob­ach­ten, ob das Werk­ver­trags­ar­beits­ver­bot zum 1.1.2021 und das
Leih­ar­beits­ver­bot zum 1.4.2021 von den Betrie­ben wirk­lich ein­ge­hal­ten wer­den. Es gibt hier eine
„ambi­va­len­te Über­gangs­si­tua­ti­on“, die in der Tat wach­sam beob­ach­tet wer­den muss.
Anzu­mer­ken ist, dass die­ses Gesetz ja nur für Arbei­ten­de in Schlacht- und Zerlegungsbetrieben
gilt; für Beschäf­tig­te in den Berei­chen Rei­ni­gung, Logis­tik, Ver­pa­ckung in der Fleisch­in­dus­trie hat
es kei­ne Geltung.
In Glo­ba­li­sie­rungs-Hin­sicht rückt seit kur­zem in der AKTION ein wei­te­rer Zusam­men­hang von
Wür­de und Gerech­tig­keit in der Fleisch­in­dus­trie in den Blick: die Lie­fer­ket­te, wie in Lateinamerika
Wür­de und Leben vie­ler Bau­ern­fa­mi­li­en und indi­ge­ner Völ­ker ver­letzt wer­den durch die Rodung
rie­si­ger Flä­chen für Soja­an­bau, der dann durch Groß­kon­zer­ne expor­tiert wird, um in Europa
anzu­lan­den und zu Tier­fut­ter ver­ar­bei­tet zu wer­den – ein direk­ter Zusam­men­hang zu weltweitem
Kli­ma­wan­del, Zer­stö­rung von Regen­wald, Fleisch­pro­duk­ti­on und unse­rem Fleischkonsum.

7 Aus­blick: Teu­fels­krei­se aufbrechen
Ich schlie­ße mit einem Wort von Papst Fran­zis­kus aus der Enzy­kli­ka Fratel­li tut­ti — Über die
Geschwis­ter­lich­keit und die sozia­le Freundschaft:
„Oft stellt man fest, dass tat­säch­lich die Men­schen­rech­te nicht für alle gleich gel­ten. … Wenn
man unse­re gegen­wär­ti­gen Gesell­schaf­ten auf­merk­sam beob­ach­tet, ent­deckt man in der Tat

zahl­rei­che Wider­sprü­che, auf­grund derer wir uns fra­gen, ob die Gleich­heit an Wür­de aller
Men­schen … wirk­lich unter allen Umstän­den aner­kannt, geach­tet, geschützt und geför­dert wird.
Es gibt heu­te … zahl­rei­che For­men der Unge­rech­tig­keit, genährt von verkürzten
anthro­po­lo­gi­schen Sicht­wei­sen sowie von einem Wirt­schafts­mo­dell, das auf den Pro­fit gründet
und nicht davor zurück­scheut, den Men­schen aus­zu­beu­ten, weg­zu­wer­fen und sogar zu töten.
Wäh­rend ein Teil … im Über­fluss lebt, sieht der ande­re Teil die eige­ne Wür­de aberkannt,
ver­ach­tet, mit Füßen getre­ten und sei­ne Grund­rech­te igno­riert oder ver­letzt. Was sagt das über
die Gleich­heit der Rech­te aus, die in der­sel­ben Men­schen­wür­de begrün­det lie­gen?“ (FT 22 v.
3.10.2020, DBK – Ver­laut­ba­run­gen des Apos­to­li­schen Stuhls Nr. 227)
Dass die AKTION Wür­de und Gerech­tig­keit einen wich­ti­gen Kampf kämpft, an der Veränderung
von unge­rech­ten und aus­beu­te­ri­schen Arbeits­struk­tu­ren arbei­tet – gegen vie­le Widerstände -,
dass sie sich auf die Sei­te der ost­eu­ro­päi­schen Mitbürger*innen stellt, die­sen bei­steht, ihnen zur
Ermäch­ti­gung ver­hilft – und so Teu­fels­kreis­läu­fe auf­bricht: das alles soll mit der Ver­lei­hung des
Johan­nes XXIII.-Preises 2021 hier und heu­te gewür­digt werden.

25.9.2021, Klaus Hage­dorn, Oldenburg