Laudatio anlässlich der Verleihung des Johannes XXIII.-Preises durch den pax christi
Diözesanverband Münster an die AKTION Würde und Gerechtigkeit aus Lengerich
am 25.9.2021 in der Katholischen Studierenden- und Hochschulgemeinde (KSHG) in Münster
1 Einleitung
Wir würdigen hier und heute ein entschiedenes Engagement gegen organisierte
Verantwortungslosigkeit. Wir würdigen mit der Verleihung des Johannes XXIII.-Preises 2021 das
Engagement der AKTION Würde und Gerechtigkeit in Lengerich. Die AKTION engagiert sich
insbesondere für Menschen in der Fleischindustrie, deren Arbeitskraft unter prekären,
menschenunwürdigen Bedingungen und zu niedrigem Lohn ausgenutzt wird. Sie deckt auf und
versucht zu stoppen, wie Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa ausgebeutet werden, wie sie wie
Wegwerfmenschen behandelt werden: ein ausgefeiltes Sklavensystem in unseren Tagen und
unter uns – viele Jahre hingenommen, im Dunkel bleibend, weitgehend unbeachtet von der
Öffentlichkeit. Advocacy heißt das Fachwort für solches Engagement – und es meint: Anwalt der
Entrechteten zu sein.
2 Advocacy – Verteidigung der Menschenrechte und der Menschenwürde als Aufgabe
In der Preis-Urkunde haben wir uns in pax christi für ein Zitat aus der Konstitution Gaudium et
spes des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) entschieden:
„Was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen,
willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit
Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes
Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere
ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen
Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind
sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.“ (GS 27: in: Karl
Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 11. Aufl., Freiburg 1976, S. 474f)
Dieser Text atmet die Grundüberzeugung des Konzilspapstes Johannes XXIII.: Kirche Jesu
Christi ist Kirche in der Welt; sie hat Präsenz zu zeigen, für die Menschen da zu sein; sie hat die
Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst der Menschen – aller Menschen ohne jeden
Unterschied – wahrzunehmen, dafür Interesse zu zeigen, sie zu ihren eigenen zu machen. (vgl.
GS 1: ebd. S. 449) Ein Satz aus dem Vermächtnis von Johannes XXIII., gesprochen am 24.5.1963
kurz vor seinem Tod und aufgeschrieben von seinem Sekretär, macht eine solche Haltung
überdeutlich:
„Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten, sind wir heute darauf
ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf, in erster
Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen
Kirche zu verteidigen.“ (Ludwig Kaufmann/Nikolaus Klein, Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis,
Fribourg/Brig 1990, 24)
Eine solche Einstellung, eine solche Erkenntnis fußt auf sehr alten Texten unserer jüdisch-
christlichen Tradition: Jesus Sirach nenne ich als ein Beispiel unter vielen:
„Kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt der Armen, wer es ihnen vorenthält, ist ein Blutsauger.
Den Nächsten mordet, wer ihm den Unterhalt nimmt. Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn
vorenthält.“ (Jesus Sirach 34, 24–27)
Klare Worte sind hier aufgeschrieben: Derjenige, der den Arbeiter*innen ihren Lebensunterhalt
raubt, ist ein wahrer Blutsauger, sogar ein Mörder. Das angesprochene „Blutaussaugen“
geschieht auch hierzulande unter uns. Unterdrückung geschieht in den Strukturen, in denen wir
leben und von denen wir profitieren. Solchen ungerechten und lebensbehindernden Strukturen
mit Schweigen oder mit Nachsicht zu begegnen, heißt, deren Stoßrichtungen und deren „Waffen“
zu segnen. In der Tradition des Ersten und Zweiten Testaments ist soziales politisches
Engagement und Advocacy-Arbeit tief verankert. Parteinahme und Einsatz für die Entrechteten
und Marginalisierten ist in der Bürgerlichkeit der Kirchen und Verbände oft an so vielen Orten bei
uns verloren gegangen. Empörung ist bei nur wenigen wahrzunehmen.
Ich erinnere unsere Tradition beispielhaft mit diesen Texten, weil sozialpolitisches Engagement
solche Texte in seinem Rücken wissen darf. Ich erwähne diese Texte, weil es in solchem
Engagement um den Einsatz für „gutes Leben“ geht. Gutes Leben“ meint: dass Menschen nicht
getötet werden, nicht vertrieben, ausgebeutet, nicht unterdrückt, verachtet, nicht diskriminiert,
entrechtet, marginalisiert werden, dass das Leben auf unserer Erde zu schützen und zu
bewahren ist. Gewalt in all diesen Formen ist etwas zutiefst Antichristliches, Antijesuanisches,
weil sie klein und unsichtbar macht, Menschen niederdrückt — und in ihrer extremsten Form zu
vernichten sucht. Damit steht sie der Reich-Gottes-Botschaft Jesu, die die Würde eines jeden
Menschen, gerade der Marginalisierten, groß macht und ins Zentrum stellt, diametral entgegen.
3 Die AKTION und ihre Gründung in Lengerich in 2019
Schaut man in die Satzung der AKTION Würde und Gerechtigkeit, findet man heraus, dass sie
eine noch junge Organisation ist: Die Gründungsversammlung datiert vom 4. Januar 2019.
Der wichtigste und erste Zweck des Vereins ist, „die Förderung der Hilfe für Zuwanderer, die
Opfer von Arbeitsausbeutung, Straftaten und Unfällen wurden, sowie insbesondere die
Schaffung, Wahrung und Durchsetzung der Rechte der Betroffenen“.
(vgl. § 2: www.wuerdegerechtigkeit.de/unser-verein/satzung-kuratorium/)
Dieser Zweck soll realisiert werden durch „Öffentlichkeitsarbeit, politische Lobbyarbeit und
Politikberatung, durch Begleitung von Zuwanderern bei Behördengängen, durch juristische
Beratungsangebote, durch Informations- und Bildungsarbeit, durch Kooperationen mit
Organisationen vergleichbarer Zielsetzung“. (vgl. § 3: ebd.)
Dazu gibt es eine Vorgeschichte in Lengerich:
In 2017 begannen Gespräche zwischen Vertreter*innen von Institutionen und Gruppen, um ihre
Erfahrungen mit osteuropäischen Arbeitsmigrant*innen auszutauschen. Es wuchs langsam die
Erkenntnis über erschreckende systembedingte Zustände: dass sich also auch in Lengerich
herausgebildet hatte, was man bislang nur aus anderen Städten über prekäre und
menschenunwürdige Lebens‑, Wohn- und Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigrant*innen in der
Fleischindustrie gehört hatte. Ca. 1.100 Menschen aus Bulgarien und Rumänien wohnen in
Lengerich – abgesondert, nicht integriert, meistenteils ohne deutsche Sprachkenntnisse,
beschäftigt in den Schlacht- und Fleischbetrieben im Umland, viele in Münster, Sassenberg und
Georgsmarienhütte, wohin sie auch täglich hin- und zurück“gekarrt“ werden von den Firmen.
Ein Rechtsanwalt in Lengerich, der in Rumänien über 20 Jahre für die deutsche Industrie
gearbeitet und dann ‘die Seiten gewechselt‘ hatte, setzte einen Arbeitsschwerpunkt auf die
anwaltliche Begleitung von Arbeitsmigrant*innen. Sein Name ist Gisbert Stalfort. Er ist vor einem
Monat 57-jährig verstorben. Er schlug in 2018 vor, einen Verein zu gründen, um besser vertreten
und beraten zu können und um eine größere Schlagkraft in der Öffentlichkeit zu haben. Ende des
Jahres 2018 wurden die Vorbereitungsarbeiten für den Verein abgeschlossen – und danach die
Gründung vollzogen.
Heute hat der Verein 235 Mitglieder aus allen gesellschaftlichen Schichten. Die meisten kommen
aus NRW, einige auch aus Niedersachsen, dem Oldenburger Land, aus Bremen und aus
Süddeutschland, schwerpunktmäßig aus Lengerich, Münster, Osnabrück, dem Niederrhein und
Aachen.
Seit den Corona-Hotspots vor einem Jahr haben die regionalen und überregionalen Medien wie
auch das Fernsehen in Dokumentationen und Talkrunden immer wieder über die Zustände in der
Fleischindustrie berichtet. Im Herbst 2020 erschien der Dokumentarfilm „Regeln am Band, bei
hoher Geschwindigkeit“. Das hat endlich viele bewegt, ihre Sinne für die Lebensbedingungen der
osteuropäischen Arbeiter*innen zu öffnen und wahrzunehmen, dass hier moderne Formen der
Sklaverei in einem Rechtsstaat betrieben werden.
4 Was aufgedeckt wurde – moderne Sklaverei im Rechtsstaat Deutschland
Diese modernen Formen von Sklaverei wurden u.a. auch durch die AKTION aufgedeckt, verfolgt,
angeprangert, öffentlich gemacht. Stichworte sind Lohn- und Sozialdumping: dass Menschen
angemietet, verschlissen und danach entsorgt, d.i. entlassen und beliebig ausgetauscht werden;
dass sie ausgebeutet werden in sog. Zwölf-Stunden-Schichten mit unbezahlten Überstunden;
durch absurd hohe Vertragsstrafen bei vorzeitiger Kündigung; durch Sechs- bis Sieben-Tage-
Wochen und durch Bezahlung unter dem Mindestlohn; durch fristlose Kündigung von
Arbeiterinnen bei Schwangerschaften; dadurch, dass Krankenversicherungsschutz oftmals nicht
gewährleistet ist; dass sie meist unauffällig und unter sich in oft haltlosen Wohnverhältnissen
leben müssen mit horrend hohen Mieten z.B. für ein Bett im Mehrbett- bzw. Sechsbettzimmer
EUR 200 – Umstände, die Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nahezu
unmöglich machen. (vgl. z.B. DIE ZEIT vom 17.12.2020, S. 27: Ungewollte Einblicke – Vor Gericht
kommt nun zur Sprache, wie es in der Schattenwelt zugeht)
Sie werden behandelt als Ware, und es scheint keine Rolle zu spielen, was das mit ihrem Leben
und ihrer Gesundheit macht, dass sie schwere körperliche und psychische Schäden nehmen,
dass sie letztlich als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt werden.
Das alles ist de facto organisierte Verantwortungslosigkeit, Willkürherrschaft über Menschen,
moderne Sklavenhaltung. Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) spricht von
„organisierter Kriminalität“. Dahinter ist gestanden eine Subunternehmer-Struktur. Durch sie
wurde beginnend ab der 1990er Jahre seitens der Fleischindustrie die Personalverantwortung
immer weiter ausgelagert und die Stammbelegschaft weitestgehend ausgewechselt mit
osteuropäischen Arbeitsmigrant*innen. Diese im Rechtsstaat Deutschland aufgebaute Struktur ist
oftmals in enger Verflechtung mit den sog. hiesigen „Fleischbaronen“ gestanden. Beschäftigte
sind auf Verschleiß gebucht – werden ausgetauscht, wenn sie nicht mehr können.
„WegwerfMenschen-Mentalität“ wird das in der AKTION Würde und Gerechtigkeit genannt.
Kurz und pointiert gesagt: Wir sehen also vor unserer Haustür, wie Kapitalismus funktioniert,
dessen Produkte uns dienlich sind und dem wir uns andienen: Kosten werden externalisiert, von
den Fleischfirmen an Subunternehmer delegiert, Personalverantwortung wird abgegeben,
Menschen werden wie Waren behandelt und abgeschrieben. Die schäbige Seite des
Kapitalismus, der Menschen ausnutzen und auspressen kann, wird vor unserer eigenen Haustür
sichtbar und wirksam, wo er schon lange – oft ohne Gewerkschaftsgegenmacht – sein Unwesen
treibt. Diese Seite, von der wir profitieren durch billige Fleischpreise, kommt uns unangenehm
nahe. Wir als deutsche Gesellschaft bedienen uns des West-Ost-Einkommensgefälles in Europa
und nutzen es zu unserem wirtschaftlichen Vorteil aus.
Die Fleischindustrie und wir als die Fleisch-Konsument*innen nutzen vorteilnehmend die
Arbeitskraft von osteuropäischen Arbeitsmigrant*innen zu Bedingungen, die erstens das
Spektrum persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten dieser Menschen verengen und in diesem Sinne
die Grundlagen eines selbstbestimmten Lebens untergraben. Und die zweitens die arbeits- und
sozialrechtlichen Standards, die hierzulande in sozialen Kämpfen zur „Abfederung“ des
Kapitalismus erstritten wurden, massiv unterlaufen.
5 Der Spiritus Rector – Ein Mann mit einer Option für die Entrechteten, der sich empört
Die AKTION Würde und Gerechtigkeit lässt sich nicht würdigen, ohne den Spiritus Rector in den
Blick zu nehmen. Es ist Peter Kossen, aufgewachsen in Rechterfeld bei Visbek in Südoldenburg,
Priester des Bistums Münster, Pfarrer in Lengerich und vormals Vize-Offizial im Bischöflich
Münsterschen Offizialat in Vechta.
Kurz nach seinem Dienstantritt in Vechta hörte er in 2012 in Oldenburg von Beraterinnen des
Sozialdienstes kath. Frauen (SkF) von einer Arbeiterin aus Rumänien, die schwanger geworden
war, die daraufhin ihre Arbeit in einem Fleischzerlegungsbetrieb in Südoldenburg verloren hatte
und das Geld für die Rückfahrt nach Rumänien nicht aufbringen konnte. Am Ende eines Monats
war ihr nur ein Hungerlohn ausgezahlt worden. Ein Landarzt aus Goldenstedt berichtete ihm:
Osteuropäische Männer kämen mit schweren Verletzungen von der Arbeit, weil es nur
unzureichende Schutzkleidung gebe. Ein Arbeitstag sei 12 Stunden lang. Arbeitsrechte spielten
keine Rolle. In einem Schlachthof seien an Feuerlöschern Kameras versteckt, die jeden Schritt
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis in die Umkleiden kontrollierten. In den oft
heruntergekommenen Unterkünften der Arbeitsmigrant*innen werde ein Bett für mehrere hundert
Euros an drei Personen im Schichtbetrieb vermietet. Manche schliefen sogar im Wald.
Es waren Beobachtungen, die ihn erschütterten. Er entschied sich, sein Amt zu nutzen und die
Tatsachen aus dem Schatten ins Licht zu ziehen. Im August 2012 bei einem Gottesdienst in der
Gemeinde Lohne thematisierte er all die Einblicke, die seit seiner Ankunft an ihn herangetragen
wurden, und kam zu folgendem Schluss: “Wenn es uns nicht gelingt, menschenwürdige Arbeits-
und Lebensbedingungen auch für Migranten zu garantieren, dann verrotten unsere Werte von
innen! All das, worauf wir in Südoldenburg stolz sind: Fleiß, Innovation, Mut und auch unser
Gemeinschaftsgefüge, verrottet von innen, wenn es uns nicht gelingt, Rechte und Gerechtigkeit
allen zugänglich zu machen, auch den Migranten!” (vgl. DIE ZEIT vom 7.4.2021:
www.zeit.de/2021/15/peter-kossen-pfarrer-fleischindustrie-arbeitsbedingungen-aktivismus/komplettansicht)
Matthias Brümmer, der Oldenburger Gewerkschaftler bei der NGG, hat vielfach mit Peter Kossen
zusammengearbeitet. Er sagt: “Herr Kossen ist ein Beispiel dafür, dass sich gewerkschaftliche
und christliche Grundwerte im Kampf um die Gerechtigkeit nicht unterscheiden.” Mit dieser
Aussage steht er in einer bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition kirchlicher
Soziallehre und Katholischer Sozialethik.
Andere sagen, Peter Kossen habe sich im Laufe der Jahre instrumentalisieren lassen. Er
übertreibe, polarisiere, werte Unternehmen ab und verunglimpfe Landstriche. Der Bürgermeister
von Visbek warf ihm in einem Gespräch mit der Zeitung Kirche und Leben vor, pauschale,
undifferenzierte Vorwürfe zu erheben und seine Gemeinde in ungerechtfertigter Weise in
Misskredit zu bringen. Ich selbst höre, dass Pfarrer Kossen ein nicht gern gesehener Gast in
kirchlichen Häusern und Gemeinden im Oldenburger Land sei. Auch die Offizialatsleitung in
Vechta stehe zu ihm in Distanz. Es wird oft ins Feld geführt, dass Spenden- und
Kirchensteuereinnahmen wegbrechen könnten, wenn hier zu deutlich Partei für die
Arbeitsmigrant*innen bezogen werde. Mit Blick auf unsere biblisch-prophetische Tradition und die
Reich-Gottes-Botschaft Jesu und mit Blick auf die kirchliche Soziallehre bricht sich bei mir der
Gedanke Bahn, dass mit solcher Einschätzung die Botschaft von der Liebe Gottes zu uns
Menschen, zu allen Menschen ohne Unterschied, verraten wird. Oder anders gefragt: Führt eine
solche Haltung nicht dazu, dass Kirche zu einer Brutstätte von Entsolidarisierung, Ausgrenzung
und Egoismus wird?
Peter Kossen hat 2017 das BMO in Vechta verlassen, wurde Pfarrer in Lengerich und kämpft
weiter von hier aus für faire Arbeitsbedingungen.
6 Stoßrichtung des Engagements der AKTION – Aktuelle Arbeitsakzente
Zu den aktuellen Arbeitsakzenten und Projekten: Die AKTION hat ein Büro in Lengerich, das mit
zwei Personen besetzt ist, die Anrufe und Beratungsanfragen entgegennehmen. Geleistet wird:
konkrete Beratungs- und Begleitungsarbeit für Menschen in der Fleischindustrie. Seit kurzem gibt
es eine halbe Juristenstelle — besetzt mit einem Rechtsanwalt i.R. — finanziert vom
Gesundheitsministerium in NRW – ein Pilotprojekt.
Die Hilfsanfragen von Arbeitsmigrant*innen berühren Fragen des Arbeitsrechts,
Lohnvorenthaltungen, falsche Lohnberechnungen, unbezahlte Überstunden, nicht geltend zu
machende Urlaubsansprüche, Kündigungen wegen Schwangerschaft, Kündigungen wegen
Krankheitsausfällen, Wohnungsfragen (Mietkündigungen, Mietwucher, überhöhte
Kostenabrechnungen) etc.
Die Erfahrung der AKTION ist: all dies wird auch weiterhin noch ‘versucht‘ in vielen (Sub-)
Strukturen der Fleischindustrie, weil davon ausgegangen wird, dass sich die Arbeitsmigrant*innen
nicht dagegen auflehnen (können). Arbeitsrechtlich klären sich diese Dinge meistens leicht -
immer dann, wenn anwaltliche Vertretung dabei ist.
Vernetzungsarbeit mit anderen Beratungsstellen in NRW und NiSa und bundesweit ist im Blick.
Die Zusammenarbeit und der Austausch mit der Gewerkschaft NGG bzw. Betriebsräten wird
gesucht, um gemeinsam die Umsetzung des „Arbeitsschutzkontrollgesetzes für die
Fleischindustrie“ zu beobachten, ob das Werkvertragsarbeitsverbot zum 1.1.2021 und das
Leiharbeitsverbot zum 1.4.2021 von den Betrieben wirklich eingehalten werden. Es gibt hier eine
„ambivalente Übergangssituation“, die in der Tat wachsam beobachtet werden muss.
Anzumerken ist, dass dieses Gesetz ja nur für Arbeitende in Schlacht- und Zerlegungsbetrieben
gilt; für Beschäftigte in den Bereichen Reinigung, Logistik, Verpackung in der Fleischindustrie hat
es keine Geltung.
In Globalisierungs-Hinsicht rückt seit kurzem in der AKTION ein weiterer Zusammenhang von
Würde und Gerechtigkeit in der Fleischindustrie in den Blick: die Lieferkette, wie in Lateinamerika
Würde und Leben vieler Bauernfamilien und indigener Völker verletzt werden durch die Rodung
riesiger Flächen für Sojaanbau, der dann durch Großkonzerne exportiert wird, um in Europa
anzulanden und zu Tierfutter verarbeitet zu werden – ein direkter Zusammenhang zu weltweitem
Klimawandel, Zerstörung von Regenwald, Fleischproduktion und unserem Fleischkonsum.
7 Ausblick: Teufelskreise aufbrechen
Ich schließe mit einem Wort von Papst Franziskus aus der Enzyklika Fratelli tutti — Über die
Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft:
„Oft stellt man fest, dass tatsächlich die Menschenrechte nicht für alle gleich gelten. … Wenn
man unsere gegenwärtigen Gesellschaften aufmerksam beobachtet, entdeckt man in der Tat
zahlreiche Widersprüche, aufgrund derer wir uns fragen, ob die Gleichheit an Würde aller
Menschen … wirklich unter allen Umständen anerkannt, geachtet, geschützt und gefördert wird.
Es gibt heute … zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit, genährt von verkürzten
anthropologischen Sichtweisen sowie von einem Wirtschaftsmodell, das auf den Profit gründet
und nicht davor zurückscheut, den Menschen auszubeuten, wegzuwerfen und sogar zu töten.
Während ein Teil … im Überfluss lebt, sieht der andere Teil die eigene Würde aberkannt,
verachtet, mit Füßen getreten und seine Grundrechte ignoriert oder verletzt. Was sagt das über
die Gleichheit der Rechte aus, die in derselben Menschenwürde begründet liegen?“ (FT 22 v.
3.10.2020, DBK – Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 227)
Dass die AKTION Würde und Gerechtigkeit einen wichtigen Kampf kämpft, an der Veränderung
von ungerechten und ausbeuterischen Arbeitsstrukturen arbeitet – gegen viele Widerstände -,
dass sie sich auf die Seite der osteuropäischen Mitbürger*innen stellt, diesen beisteht, ihnen zur
Ermächtigung verhilft – und so Teufelskreisläufe aufbricht: das alles soll mit der Verleihung des
Johannes XXIII.-Preises 2021 hier und heute gewürdigt werden.
25.9.2021, Klaus Hagedorn, Oldenburg