Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil,
sehr geehrter Herr Minister Laumann,
ich wende mich heute mit der dringenden Bitte um besonderen Schutz für Arbeitsmigrant*innen in der Corona-Pandemie an Sie, weil ich weiß, dass Ihnen beiden die Problematik bewusst und eine gute Lösung ein persönliches Anliegen ist.
In der Corona-Pandemie habe ich zunehmend begründete Angst vor einer massenweisen Infizierung der großen Gruppe ost- und südosteuropäischer Arbeitsmigranten. Aufgrund vielfach unmenschlich harter Arbeitsbedingungen zum Beispiel in der Fleischindustrie, in Ausstallkolonnen oder als Paketzusteller muss mit einer Vielzahl schwerer und tödlicher Verläufe der Corona-Erkrankung bei den Arbeitern und Arbeiterinnen in diesen Branchen gerechnet werden.
Der Menschenhandel ist zwar vorübergehend zum Stillstand gekommen. Aber schon gibt es Forderungen, die Restriktionen zu lockern. Der Markt verlangt nach billigem Fleisch, Gratispaketen und billiger 24-Stunden-Pflege. Im Zweifel sollen die, die da sind, mehr arbeiten dürfen. Kaum vorhandene Minimalstandards in Sachen Arbeitsschutz, Entlohnung und Wohnung dürfen jetzt nicht noch unterlaufen werden! Die verbliebenen Migranten müssen davor beschützt werden, dass man sie noch mehr als bisher auspresst und verschleißt, um sie dann wie Maschinenschrott zu entsorgen. Ich verweise auf die Erfahrungen meines Bruders, des Arztes Dr. Florian Kossen, der als Internist und Allgemeinmediziner tagtäglich Frauen und Männer behandelt, die als Arbeitsmigranten z. B. in Großschlachtereien beschäftigt sind. „Die Totalerschöpfung dieser Menschen ist die Normalität“, sagt mein Bruder. „Dazu kommen zahlreiche Schnittverletzungen, aber auch wiederholte und hartnäckige Infekte durch mangelhafte hygienische Zustände in den Unterkünften und durch gesundheitswidrige Bedingungen an den Arbeitsplätzen.“
In den Schrottimmobilien, die häufig als Unterkunft dienen, und ihren oft viel zu kleinen, schlecht belüfteten und mehrfach belegten Zimmern findet man nicht selten ausgeprägte Schimmelbeläge an den Wänden, direkt neben den als Betten dienenden Pritschen. Wenn jetzt die Pandemie auf diese ausgelaugten, angeschlagenen und gedemütigten Menschen aus Ost- und Südosteuropa trifft, wird sie zahlreiche Opfer fordern.
Die mangelnde Sprachkenntnis verschärft das Problem. Viele sprechen wenig oder gar nicht Deutsch. Da kommen Warnungen und Sicherheitsvorschriften nur bruchstückhaft oder überhaupt nicht bei den Adressaten an. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass zunehmend ganze Familien von Arbeitsmigranten mit ihren Kindern in gesundheitsgefährdenden Unterkünften hausen. Die Wirklichkeit sind immer noch überbelegte Sammelunterkünfte und Sammeltransporte zur Arbeit in vollgestopften Bullis und Bussen. Zwölf-Stunden-Schichten an sechs Tagen die Woche, körperliche Schwerstarbeit unter ständigem physischen und psychischen Druck sowie Behausungen, die Erholung und Regeneration nicht zulassen, sondern die Gesundheit zusätzlich gefährden – solche Arbeits- und Lebensbedingungen liefern die Betroffenen und ihre Angehörigen wehrlos einer hochansteckenden und sehr gefährlichen Krankheit aus.
Der Erlass des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit dem Titel: „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard“ ordnet unter Punkt II.5 („Infektionsschutzmaßnahmen für Sammelunterkünfte“) an:
„Für die Unterbringung in Sammelunterkünften sind möglichst kleine, feste Teams festzulegen, die auch zusammenarbeiten. (…) Grundsätzlich ist eine Einzelbelegung von Schlafräumen vorzusehen. Eine Mehrfachbelegung von Schlafräumen ist grundsätzlich nur für Partner bzw. enge Familienangehörige statthaft. Es sind zusätzliche Räume zur frühzeitigen Isolierung infizierter Personen vorzusehen…“
Ich kann nicht erkennen, dass diese wichtige Vorschrift umgesetzt wird.
Zur Arbeitsplatzgestaltung fordert der Erlass:
„Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen ausreichend Abstand (mindestens 1,5 m) zu anderen Personen halten. Wo dies auch durch Maßnahmen der Arbeitsorganisation nicht möglich ist, müssen alternative Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Transparente Abtrennungen sind bei Publikumsverkehr und möglichst auch zur Abtrennung der Arbeitsplätze mit ansonsten nicht gegebenem Schutzabstand zu installieren…“
Wer kontrolliert das z. B. in der Fleischindustrie? Wer setzt das durch?
Weiterhin heißt es in der Verordnung unter Punkt II.13 („Handlungsanweisungen für Verdachtsfälle“):
„Es sind betriebliche Regelungen zur raschen Aufklärung von Verdachtsfällen auf eine COVID-19-Erkrankung zu treffen. (…) Beschäftigte mit entsprechenden Symptomen sind aufzufordern, das Betriebsgelände umgehend zu verlassen bzw. zuhause zu bleiben…“
Ich bin fest davon überzeugt, dass viele der prekär beschäftigten Arbeitsmigrant*innen zurzeit bei Krankheitssymptomen weiterhin zur Arbeit gehen, weil völlig unklar ist, wovon sie leben können, wenn sie in Quarantäne gehen oder ein Arzt ihre Arbeitsunfähigkeit feststellt. Mehrsprachige Hinweise auf Unterstützungsangebote durch die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter schafft Klarheit und wirkt der Existenzangst der Betroffenen entgegen.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Minister, wir sind uns darin einig, dass Arbeitsmigrant*innen nicht wie Verschleißmaterial oder wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden dürfen, deren Gesundheit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als der ihrer deutschen Kolleg*innen. In der Corona- Pandemie fällt mehr denn je auf, dass unsere Wirtschaft fundamental auf die Arbeitsmigrant*innen angewiesen ist. Umso mehr muss das ein Grund sein, sie nicht wie Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Ich bitte Sie dringend darum, die Durchführung der Sicherheitsverordnungen zu kontrollieren und sicherzustellen. Wenn nicht wirklich schnell gehandelt wird, ist eine massenhafte Ansteckung mit zahlreichen schweren und auch tödlichen Verläufen wohl nicht mehr aufzuhalten!
Großen Respekt habe ich vor dem, was Sie in diesen Tagen für unser Land leisten! Danke!
Peter Kossen